Im Dezember 2020 betrat ich das schlichte Büro in der Amtsverwaltung. Den Termin hatte ich telefonisch vereinbart, es gab keine Wartezeit. Die Amtsdame empfing mich freundlich. Sie hatte alle Unterlagen bereits vorbereitet. Ich musste mich ausweisen und hatte zwei Unterschriften zu leisten. Die Verwaltungsgebühr war bar und vor Ort zu entrichten. Wir tauschten ein paar wohlwollende Worte aus und nach fünf Minuten war mein Austritt aus der Evangelisch Lutherischen Kirche in Norddeutschland vollzogen.
Was habe ich mit diesem Schritt abgelegt? Ich habe eine Mitgliedschaft beendet. Was ist nun mit meinem Bekenntnis? Was ist mit meiner Taufe? Beides sind keine Fragen über die ich mir den Kopf zerbreche. Das können andere tun, wenn sie es für nötig halten. Nach meiner Beendigung des Dienstes einige Monate zuvor stand für mich die pragmatische Abwägung im Vordergrund. Möchte ich die kostenpflichtige Mitgliedschaft in diesem “Verein“ um ein Jahr verlängern oder nicht? Als Selbstständiger mit gutem Einkommen war der jährliche Beitrag höher als der in jedem anderen Verein zu dem ich jemals gehörte. Was war die Gegenleistung dafür? Ich hatte kein Interesse mehr an den Aktivitäten des Vereins teilzunehmen, sah keine Vertretung meiner Interessen durch den Verein und war auch nicht bereit dazu, mit meinem Geld die Arbeit des Vereins weiter zu unterstützen.
Ein Jahr später suchte die Evanglische Akademie in Tutzing für eine Tagung zur Zukunft der Evangelischen Kirchen für ein Podiumsgespräch nach Menschen, die aus der Kirche ausgetreten waren. Ich bot mich zum Gespräch an und schrieb dazu folgende Vorstellung:
Ich bin im pietistischen Südwesten Deutschlands aufgewachsen und habe dort durch landeskirchliche Gemeinschaft und württembergische Landeskirche eine starke christliche Prägung erfahren.
Ein Studium am Theologischen Seminar in Adelshofen verstärkte die evangelikale Seite dieser Prägung (2005-2009). Den Dienst in der Gemeinde als meinen Beruf zu ergreifen, war für mich damals gefühlt Berufung.
Diesen Dienst wollte ich als evangelischer Pfarrer leisten und deshalb studierte ich in Rostock Evangelische Theologie (Diplom 2009-2015). Diese Zeit war für mich ein wichtiges, aber auch herausforderndes Ringen mit meiner „frommen“ Prägung. Meine Diplomarbeit schrieb ich zur Tod-Gottes-Theologie. Es war aber kein Bruch mit der christlichen Tradition, ich meinte einen Weg des „atheistischen Christentums“ für mich gefunden zu haben. Seine Gangbarkeit innerhalb der Kirche wollte ich im Vikariat prüfen. Zusammen mit einem kreativen und inspirierenden Kurs absolvierte ich mein Vikariat in Nordfriesland (2016-2018).
Die Schwächen und Gefährdungen unserer evangelischen und landeskirchlichen Tradition und Institution und des Pfarramts waren mir immer sehr bewusst. Es begleitete mich deshalb die Frage: Ist das, was ich hier (als Pfarrer und Kirche) tue für die Menschen, mit denen ich arbeite, mehr heilsam oder einem mündigen und versöhnlichen Leben eher abträglich? Lange überwog das Heilsame in meinen Augen und deshalb trat ich meinen Pfarrdienst im Kirchenkreis Pommern 2018 in einer ländlichen Gemeinde motiviert an.
2020 im Sommer beantragte ich mein Dienstende und dem wurde stattgegeben. Im Dezember 2020 trat ich aus der evangelischen Kirche aus.
Zuletzt konnte ich die Frage, ob mein Dienst für mich selbst gut war, nicht mehr positiv beantworten. Meine Bereitschaft schwand, meine begrenzte Lebensenergie in die institutionellen Herausforderungen der evangelischen Landeskirche zu investieren. Zwar sah ich immer noch die kostbaren Seiten der kirchlichen Arbeit – die Pflege der örtlichen Traditionen und Gebäude, das Verbinden von Menschen allen Alters und auch das Angebot an Ritualen in verschiedenen Lebenslagen - doch besonders die, oft als aufgestülpt empfundene, konfessionelle Bindung all dessen belastete mein Gewissen zunehmend und ich nahm sie für eine offene und würdigende Begegnung mit Menschen als Hindernis wahr.
Nun bin ich auf der Suche nach einem Weg, diese Kostbarkeiten auch außerhalb der Landeskirche zu finden. Auch an der kritischen und offenen Bewahrung und Auseinandersetzung mit dem christlichen Erbe ist mir weiterhin sehr gelegen. Ein „Wiedereintritt“ kann ich mir nur nach einer erfolgten Entflechtung von Bekenntnis, Taufe und Mitgliedschaft vorstellen, vielleicht in eine „Kulturkirche“, wie der Religionswissenschaftler Michael Blume sie prognostiziert.